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Gehen mit Drehen (Walzen) ohne bestimmte Regel

Erweiterungsbau des Landessportzentrums Vorarlberg, 2007

Der bewegte Körper verbindet Sport und Kunst. Ganz verschieden sind allerdings die Regeln, nach denen sich die Körper in diesen beiden Feldern bewegen. Während sich die Regeln der Kunst stets verschieben, sind die Regeln im Sport ganz genau fixiert. Ausgehend von dieser Überlegung stand zu Beginn meines Projekts die Idee, diese beiden Regel-Felder zusammenzuführen. Mein Interesse galt denjenigen Schnittstellen von Kunst und Sport, die zielgerichtete Bewegungen zeigen, aber auch freie Interpretationen zulassen. Der Punkt also, wo sozusagen die Bewegung selbst sich ablöst von einer Perfektion und sich in etwas Neues verwandelt.
Die Fotoarbeiten bilden nun insofern eine Zusammenführung von Kunst und Sport, als dass ich die »Anleitungen für einen Vorturner« (ein Regelwerk von 1890, auf das ich im Zuge meiner Recherchen gestoßen bin) von einigen mit mir befreundeten KünstlerkollegInnen und FreundInnen ausführen ließ. Dabei blieb allein ihnen überlassen, wie sie die schon sprachlich recht schwer verständlichen Übungen interpretierten.Ich hab mich für drei unterschiedliche Aufführungsorte entschlossen, um schlussendlich auch das Außen wieder nach Innen zu tragen, und auch das Private mit einzubeziehen: eine Sporthalle, eine Parkanlage und eine Wohnung. Um den historischen Bezug zu verdeutlichen, trägt jede Serie den Titel der Übung, die ich den PerformerInnen vorgelesen habe. 
Eine Übung, die ich ebenfalls den »Anleitungen für einen Vorturner« entnommen habe, präzisiert mein Konzept. Deswegen soll dieser Schriftzug außen in Farbe (Straßenfarbe), auf den Boden bzw. die Terrasse angebracht werden. Meine Überlegungen dazu waren, dass dieser Schriftzug als ein Verweis auf die im Innenraum hängende Fotoserie, die ebenfalls unter dem auch als ein politisches Statement zu begreifenden Motto: »Gehen mit Drehen (Walzen) ohne bestimmte Regel« steht.

 

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Gehen mit Drehen (Walzen) ohne bestimmte Regel

Winfried Nussbaummüller, Kunsthaus Bregenz

Ausgangspunkt für die künstlerische Intervention am Erweiterungsbau des Landessportzentrums Vorarlberg (2007) ist für Viktoria Tremmel einerseits das Bedeutungsspektrum des Ortes und andererseits ein von Ludwig Puritz 1890 herausgegebenes Merk- und Wertbüchlein für Vorturner – im Untertitel noch passender adressiert an obere Klassen höherer Lehranstalten und Turnvereine. Aus heutiger Sicht ist der Charakter der darin enthaltenen Handlungsanweisungen manieristisch geschraubt und mit der Patina von 110 Jahren durchaus skurril anmutend. Vier konkrete Textpassagen wurden von der Künstlerin für das in Schrift und Fotografie realisierte Kunst am Bau-Projekt herangezogen. Beschrieben ist darin jeweils der Bewegungsablauf einer bestimmten Übung. Tremmel konfrontiert ein turnerisches Laienpublikum aus ihrem Freundeskreis mit dem fachspezifischen Latein eines Vorturners. Künstlerkollegen werden angewiesen, die Übungen an Schaukelringen, Barren und Balken nach jeweils freiem Verständnis selbst auszuführen. Ausgehend vom Sport initiiert Tremmel hier das feine Spiel der Auslegung und führt Interpreten wie Betrachter aufs kontextuelle Glatteis der Kunst. Im Versuch, die Anweisungen guten Willens zu verstehen – und das „Anfußen an den Mund“, das „Hüpfen oder Schwingen im Streckstütz“, den „Liegestütz vorlings“ sowie den „Niedersprung“ zu turnen – öffnet sich das Regulativ eines zielgerichteten Bewegungsablaufs zum persönlich ausgeformten Handlungsfeld. Überaus reizvoll ist die daraus resultierende breite Vielfalt des Scheiterns. Ein und dieselbe Übung am Barren zeigt sich als Ballettstand, bequemes Sitzen auf der Stange, Luftgang oder als Abhängen zwischen den Hölzern. Das Regelwerk der Turnerschaft legt mit sachlich beschreibendem Ton einen Ablauf fest, dem aber geschichtlich gesehen eine idealisierende Vorstellung der schönen Form anhaftet: Raum, Bewegung und Körper haben sich zum bestmöglichen Ausdruck zu verschmelzen. Eingebettet ist damit ein ästhetisches Urteil, welches das Wertbüchlein mit ebenfalls nur zeit- und kontextbezogen gültigen, kunsttheoretischen Abhandlungen gleichschaltet. Punkterichter für Leistung sind da wie dort schnell zu finden. Dennoch ist die ernsthafte Suche nach den Schnittmengen zwischen Kunst und anderen Sparten (wie Sport) zum Scheitern verurteilt. Dies gilt, weil Kunst im Regelfall parasitär wirkt und proklamierte Kunstgesetze im Falle ihrer Festschreibung stets umgehend mit dem adäquaten Kontra erwidert werden. Kunst dringt ein in fremde Territorien und macht sich diese zu eigen. Viktoria Tremmel befolgt die Regeln, doch sie bürstet mit den Abbildungen der von ihr angeleiteten Turner die Welt der Körperbeherrschung ironisch gegen den Strich. Zelebriert wird nicht die Ausführung einer zielgerichteten Bewegung, sondern die Interpretationsmöglichkeit im Umgang mit der Regel. Mit diesem subversiven, doch humorvoll vorgetragenen Ansatz versandet das Insider-Wissen der Experten ungehört. Aus Tremmels Blickwinkel – diesem anderen perspektivischen Trichter der Wahrnehmung – löst sich nicht nur der Sport von der Vorstellung eines wahren Ideals, sondern es erweicht sich parallel dazu auch wohltuend der Glaube an absolute Kunstwahrheiten. Damit befreien sich Sport und Kunst scheinbar von der Pflicht und zeigen sich (in der Kür) als Handlungsfeld individueller Ansätze. Mit ihrer Darstellung des Regelfalls als Sonderfall verleiht das Kunstprojekt dem Sportzentrum ein schönes Schwebemoment. Entsprechend der raumübergreifenden Inszenierung der Fotografien, die sowohl im Freien, in der privaten Atmosphäre einer Wohnung und in einer Turnhalle angesiedelt sind, verschränkt Viktoria Tremmel auch realräumlich Innen und Außen. Während die Bildserien im Entree, dem folgenden Besprechungszimmer und in der Cafeteria jeweils vom erläuternden Text begleitet sind, liefert der im Außenbereich am Boden angebrachte Schriftzug ein formal verdrehtes Äquivalent. Dort wirkt letztlich die Schrift durch ihre Größe als schwer fassbares, und daher bildhaftes Ganzes, das von den anderen Bildern nun kommentiert wirkt. Eingebettet in den Puritzschen Kodex erklärt sich hier im Breitformat das „Anders-Sehen von Welt“ als Wesen der Kunst: „Gehen mit Drehen (Walzen) ohne bestimmte Regel“.

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